Wir sind Julia Mostowa und Roman Mostowyj (ein junges Ehepaar aus Kyjiw (Ukraine)
Ein eigenes Weltbild hat jeder. Basierend auf seinen Themen und Farben machen wir Pläne, aber was ist, wenn jemand dieses Bild zerstört? Für uns ist nicht typisch zu denken, dass morgen nicht kommen wird.
Das neue Morgen
Am 23. Februar ging ich ins Bett, als glücklicher Mensch. Ich (Julia) mit meinem Ehemann (Roman) besprachen gerade eine Präsentation meines Debut-Buches, das in 2 Tagen endlich erscheinen sollte. Doch am nächsten Morgen wachte ich von Explosionen auf.
Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren soll. Alles in unserem Zimmer hat gezittert, sogar eine Tür. Die Explosionen ließen nicht nach. Ich hörte, wie Nachbarn eilig Koffer packten.
Ich konnte nicht verstehen, was jetzt passiert, oder besser gesagt, ich konnte es nicht glauben. Ich schrieb einen Beitrag auf Facebook, um zu fragen, was in anderen Regionen ist. Mir antworteten auch einige Leute aus Russland. Die schrieben schreckliche Wörter. Ein Mann sagte: „Wir zerstören nur die militärische Infrastruktur. Die Zivilbevölkerung werden wir nicht töten, sogar Idioten, wie du“. Oh, diese moralischen Monster ließen mich nicht schlafen. Wir planten heute ins Fitnessstudio zu gehen!“, dachte ich.
Die andere Realität:
Alle vergaßen Arbeit und andere Dinge. Was wichtig wurde —war sich mit Lebensmitteln einzudecken. Ich mußte aber einen Artikel für meinen Auftraggeber schreiben.
2014 versuchten die Russen Kyjiw anzugreifen, doch sie scheiterten. Ich dachte, dass ein erfolgloser Raketenangriff am Morgen das Ende des Krieges ist. Aber, wie sich herausstellte, ist es das Ende unseres früheren Lebens.
Nachmittags wurde wieder ein Luftangriff geflogen. Nach einer weiteren Attacke verstand ich endlich, dass Kyjiw im Krieg versunken ist.
Wir packten Notfalltaschen mit Sachen, die uns wahrscheinlich nicht helfen würden. Es ist ja schwierig alles Nötige in einen Rucksack zu packen. Was brauchen sie,wenn von ihrem Haus nichts übrig bleibt?
In der nähe von uns befindet sich eine Schule mit einem Luftschutzbunker. Doch wir konnten dort nicht eintreten. Der Bunker war schon voll. Man braucht außerdem eine Anmeldung, um dort einen Platz zu bekommen. Wir hatten keine. Einen Keller kann man Ohne Bürokratie benutzen! Doch der Keller unseres Hochhauses ist sehr eng und stickig. Uns blieb nur uns zwischen den tragenden Wänden in der Wohnung zu verstecken.
Wie später unsere Freunde erzählten, retten die tragenden Wände nicht. Möbel und andere Güter werden gefährlich für dich. Eine Explosionswelle bringt dich außerdem ziemlich leicht von den tragenden Wänden weg.
Am nächsten Tag drangen russische Saboteure in Kyjiw ein. In unserem Gebiet wurden Schüsse Hörbar. Saboteure machten verschiedene Zeichen auf Gebäuden, Bäumen und Bürgersteigen. An unserer Haustür malte jemand ein Kreuz. Roman Deckte es mit Moder zu.
In ein paar Tagen war die Stadt fast leer. Einige versteckten sich im Luftschutzbunker, andere fuhren aus Kyjiw weg. In dieser finsteren Leere waren die leisesten Geräusche deutlich hörbar. Die ließen mich nachdenken, was gerade passiert. Wer geht die Treppe hoch, Nachbar, Marodeur, oder russischer Soldat? In der Nacht schaltet jemand in unserem Haus Musik ein. Ich bemerkte, dass im Laufe der Stunde sehr laut immer das gleiche Lied spielt. Ist das ein Signal für Raschisten?
Gibt es einen anderen Weg?
In der Ukraine kämpfen alle, sogar Kinder. Ich bin ganz blind. In einer extremen Kampfsituation wäre ich hilflos. Also fühlte ich mich lästig und überflüssig. Meine Welt wurde zerstört und in der neuen Realität konnte ich nicht meinen Platz finden. Ich verstand, dass eine nukleare Explosion das Ende meiner Geschichte sein kann.
Schon am 25. Februar begannen aus Kyjiw Evakuierungszüge nach Westen zu fahren. Am Bahnhof herrschte Gedränge.Leute warfen in Panik ihre Koffer, um irgendwie im Wagon durchzurutschen. Raschisten beschoßen Autos und Züge voller Flüchtlinge, aber trotzdem riskierten Menschen die Flucht, um gerettet zu werden.
Wir konnten keinen Kontakt zu den Freiwilligen bekommen, die eine Evakuierung für Schwerbehinderte Menschen organisieren. Aber wir konnten uns auf uns selbst und aufeinander verlassen. Also entschieden wir nach Deutschland zu fahren.
Schon in der Kindheit interessierte ich mich für deutsche Kultur. Ich begann die deutsche Sprache zu erlernen und von einer Reise nach Deutschland zu träumen.Doch, ich hatte immer keine Zeit…
Wir konnten uns nicht vorstellen, was genau wir jetzt in Deutschland machen werden, welche Realität uns erwartet und wo wir wohnen werden. Ein Flüchtlingslager ist keine ganz gute Idee für 2 Sehbehinderte. Früher hörte ich von meinen Bekannten von der BLISTA in Marburg. Also schrieb ich eine E-Mail, aber ich konnte nicht auf eine Antwort warten.
Der Preis der Freiheit:
Am 8. März feiert man in der Ukraine den Tag des Frühlings und der Frauen. An diesem Tag feierte ich nicht. Ich saß im kalten Vorraum des Wagons.
Als wir in den Zug einstiegen, erklang ein Luftangriff. Aber niemand achtete darauf.Der Zug nach Lwiw war schon voll und wir mussten an der Tür stehen. Normalerweise dauert eine Fahrt nach Lwiw etwa 6 Stunden, aber wir reisten 12 Stunden. Unterwegs hielt unser Zug in vielen Städten, um weitere Menschen mitzunehmen. Viele Leute waren in Panik. Sie eilten zum Zug und es schien mir, dass sie mich rausschmeißen werden, um Platz zu bekommen.
Gegen Abend wurden die Metallwände des Wagonvorraums unerträglich kalt. Die letzten Stunden der Fahrt zogen sich unmöglich lange hin. Doch erreichten wir endlich Lwiw. Noch ein paar Stunden und wir stiegen in den Zug nach Polen ein. Wir mussten wieder an der Tür stehen, aber nur für 4 Stunden!
Chelm (die nächste polnische Grenzstadt) erreichten wir in einem Tag. Sehr lange stand der Zug in einem ukrainischen Feld. Niemand konnte uns erklären, worauf wir warten. Passagiere hatten schon nichts mehr zu essen und zu trinken. Um nicht zu verhungern, halfen uns bodenständige Roma. Sie deckten ausgiebige Tische. Einige kamen in den Zug und verteilten Essen. Später kamen andere Leute dazu und versorgten uns den ganzen Tag mit Nahrung und Kleidung. Wie wir später in Polen erfuhren, war die Strecke auf der wir fuhren vermient und musste geräumt werden.
In der tiefen Nacht erreichten wir endlich einem Grenzübergang. Alle Männer wurden gebeten nach draußen zu gehen. Ich ging zusammen mit meinem Ehemann. Draußen wehte starker Wind. Ich konnte die Kälte nicht mehr ertragen, alle Muskeln verbrannten vor Müdigkeit. Von all dem zitterte ich und ich konnte nichts tun. Ein Grenzsoldat hatte Mitleid und führte uns ins Gebäude. Wir saßen lange im Büro und sahen, wie andere Männer mit Tricks die Ukraine zu verlassen versuchten. Wir machten uns Sorgen, weil wir von Bekannten gehört hatten, dass einige blinde Männer nicht ins Ausland fahren durften. Aber trotzdem wurden wir hinausgelassen.
Fernes Deutschland:
Nach Warschau fuhren wir mit einem anderen Zug. Unterwegs buchte Roman ein Motelzimmer. Ach, wir konnten nicht fassen, wie viel Glück wir hatten!
Der Warschauer Bahnhof wurde zum Zufluchtsort für Ukrainer. Dort waren zu viele Menschen. Frauen und Kinder schliefen auf dem Boden bei den Wänden.
Alle Züge nach Deutschland fuhren nur nach Berlin. Man sagte uns, dass eine Evakuierung stündlich erfolgt, aber es waren schon zu viele Menschen am Bahnhof. In diesem Moment träumten wir nur von einer Dusche und einem Bett.
Ja, Duschgel und Shampoo rochen noch nie so zauberhaft, wie an diesem Tag in diesem Motel.
In meiner Mailbox wartete schon eine E-Mail von der BLISTA auf mich. Zum Glück konnte die Organisation uns ein Zimmer in der Wohngruppe geben. Doch, ich wußte nicht, wann wir schließlich in Marburg ankommen würden...
Am nächsten Morgen kamen wir zum Bahnhof. Dort teilte man kostenlose Fahrkarten für Geflüchtete aus. Doch für heute waren schon alle Tickets verteilt.Wir konnten nur morgen fahren. Unsere Versuche, wieder ein Zimmer in Warschau zu mieten, blieben erfolglos. also ließen wir unsere Taschen im Abstellraum und gingen durch die Stadt spazieren.
Am Abend, gerade als wir zum Bahnhof kamen, kündigte man einen Zug nach München an.
Im Wagon war es unglaublich kalt. Alle Passagiere gingen in andere Wagons, um wärmere Plätze zu finden. Wir waren ganz zufrieden damit. Endlich konnten wir ruhig liegen und schlafen. Ein Zugbegleiter brachte uns alle Decken, die im Wagon waren.
Von unterwegs und am Bahnhof konnten wir nicht anrufen, oder eine E-Mail schicken. So wusste niemand in der BLISTA, wann wir kommen würden. In Marburg kamen wir um 00:00 Uhr morgens an. Wir hatten keine Ahnung, dass der Bahnhof oder McDonald’s zu dieser Zeit geschlossen sein würden.
Aber wir hatten wieder Glück. Ein Mann namens Helmut bemerkte uns und bot uns an, die Nacht in seinem Haus zu verbringen. Wir hatten keine Kraft zu zweifeln oder zu fürchten, wir stimmten mit großer Dankbarkeit zu.Seine Ehefrau hat einen Bekannten in der BLISTA. So fand sie sehr schnell Kontakt zu Maarten Kubeja, dem Internatsleiter. Er und seine Ehefrau (Sandra) holten uns ab und brachten uns zur BLISTA.
Unsere Reise nach Marburg dauerte also sechs Tage.
Wie weiter leben?
Roman bekam in Marburg kostenlose Kontaktlinsen. Damit hat er 80% der Sehkraft. Es war unmöglich in der Ukraine.Wir sind der Optikerin unglaublich dankbar! In der Ukraine konnte er nur gegen 50% der Sehstärke haben.
Jetzt erlernt Roman Deutsch und arbeitet in der BLISTA, als Bautechnicker.
Mein Buch ist in der Ukraine erschienen. Ich plane, es auf Deutsch zu übersetzen. Auch ich will hier weiter, als Journalistin arbeiten.
Im Deutschland bekamen wir sehr starke und freundliche Unterstützung. Wir fühlen uns nicht als fremde. Alle Leute, die uns helfen, machen es vom ganzen Herzen. Wir möchten gerne nützlich für Deutschland sein.
Wann ist der letzte Tag? Die Geschichte meiner Flucht
- Julia Mostowa
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- Registriert: 23.08.2022, 11:51