Was wäre, wenn…
Die meisten von euch kennen sicher TikTok. Ich habe vor einiger Zeit dort privat eine Frage gestellt bekommen über die ich so lange philosophiert habe, dass ich dachte: „Na dann schreib ich dazu doch mal was in der Brücke.“
Stellt euch vor, ihr könntet die ideale Welt in punkto Blindheit und Sehbehinderung gestalten. Was würde in eurer Welt anders laufen? Diese Frage habe ich auch unserer WhatsApp-Community gestellt und es sind einige tolle Ideen zusammengekommen. Also machen wir uns gemeinsam auf die Reise zu unserer neuen Welt, dem Sehstern.
Wir beginnen unseren Rundgang an einem der vielen Bahnhöfe unseres Sehsterns. Von hier aus haben wir regelmäßige Verbindungen die wir ohne Probleme über unser Handy suchen können. Meist hat man ja aber bereits ein Ziel vor Augen und so müssen wir nun nur noch unseren Zug finden. Das ist kein Problem. Die Durchsagen im Bahnhof sagen uns ganz automatisch welcher Zug, wann, von welchem Bahnsteig fährt. Da es auch hier mal zu Ausfällen kommen kann, werden die Verspätungen und entfallenen Züge natürlich nicht nur über eine Tafel angezeigt, sondern auch vorgelesen. Das passende Gleis zu finden ist nach kurzer Zeit auch kein Problem mehr. Alle Bahnhöfe besitzen ein funktionierendes und natürlich kontrastreiches Leitsystem. So können sich blinde und sehbehinderte Gäste gut zurechtfinden. Wer den Dreh einmal heraushat findet sich auf dem ganzen Stern zurecht, denn alle Bahnhöfe haben denselben Aufbau. Neuankömmlinge können sich am Eingang des Bahnhofs aber auch noch einmal das Tastmodell des Bahnhofs anschauen, um sich so einen weiteren Eindruck zu verschaffen.
Ist man dann am Gleis angekommen zeigen ebenfalls kontrastreiche und ertastbare Bodenmarkierungen an, wo die Bahntüren sich öffnen werden. Selbstverständlich wird bei Einfahren der Bahn angesagt, welche Bahn gerade angekommen ist. Die Türen der Züge sind farblich gut abgehoben und natürlich auf der Ebene des Bahnsteiges. Egal wo wir hinwollen, jede Bahn besitzt funktionierende Anzeigetafeln und laute verständliche Ansagen. Wir fahren heute mit dem Zug, die Punkte gelten aber natürlich auch für die Bushaltestellen.
Wer eine Sitzplatzreservierung hat, muss sich hier keine Gedanken machen den Platz nicht zu finden. Die Sitzplätze in den Zügen sind seitlich an den Sitzlehnen sowohl mit Punktschrift als auch mit taktilen Zahlen gekennzeichnet. Diese Markierungen sind auch so gefertigt, dass sie nicht abgezogen oder unkenntlich gemacht werden können (indem man z.B. die Punkte eindrückt).
Auf dem Sehstern wird viel wert auf die Ordnung in den Bahnhöfen und allgemein in öffentlichen Orten gelegt. Hier wurde sich Frankreich zum Vorbild genommen. Um in den Bahnhof zu gelangen, benötigt man ein Ticket. Da dieses aber sehr günstig ist (50 Cent pro Ticket) fährt auch kaum jemand ohne. Die Tickets können übrigens von allen über das Handy, einen PC oder am Automaten gekauft werden. Es gibt keine speziellen Hotlines mit eingeschränkter Öffnungszeit und langen Wartezeiten. Wem ein kostenfreies Begleitticket zusteht, der kann dieses auch mit den Sitzplatzreservierungen im entsprechenden Ticketportal kaufen. Wer es doch lieber am Automaten kaufen mag, der kann wie bei den Bankautomaten einfach seine Kopfhörer in den Automaten stecken und wird ohne Probleme mit der Sprachausgabe durch das Menü geleitet. Falls benötigt gibt es auch Mobilitätshilfen. Dafür stehen Personen im Bahnhof bereit. Wer spontan um Hilfe bittet muss eventuell etwas warten. Ansonsten kann man aber auch einfach online oder telefonisch einen Termin buchen.
Die Bahnhöfe sind kein Aufenthaltsort. Es sitzt niemand auf dem Boden den man versehentlich treten oder dessen Becher man umstoßen könnte. Die Fahrstühle sind sauber und funktionieren und das gilt auch für die öffentlichen Toiletten. Auch hier gibt es Behindertentoiletten, die aber weder als Nachttoiletten noch als Toiletten für alle mit Geld-Einwurf genutzt werden.
Der Sehstern ist für alle da und so wird nicht nur auf Sehbeeinträchtigungen Rücksicht genommen. Es wird möglichst ebenerdig gebaut und falls Erhöhungen doch überwunden werden müssen, gibt es natürlich immer Rampen bzw. Fahrstühle und Rolltreppen. Bei den Fahrstühlen ist die Beschriftung, sowohl in Schwarzschrift, wie auch taktil, selbstverständlich. Auch die akustischen Ansagen gehören zu den Standartfunktionen eines jeden Fahrstuhls. Allgemein wird viel auf die Bedienbarkeit von Technik geachtet. Kaffee-, Spül- und Waschmaschinen mit einem Touchdisplay sind keine Herausforderung für sehbeeinträchtigte Menschen. Sie besitzen eine Sprachausgabe und einstellbare Schriftgrößen. Das gilt generell für Geräte des alltäglichen Bedarfs.
Medizinische Mittel entwickeln sich zwar immer schnell weiter, aber auch hier achten die Sehstern-Entwicklerinnen und -Entwickler darauf, dass die Produkte selbstständig verwendet werden können. So sind Messbecher groß, kontrastreich und fühlbar beschriftet. Für Medikamente die man nur tropfenweise nehmen darf, haben wir einen Tropfenzähler entwickelt – den man in Deutschland leider vergeblich sucht. Und auch Tests, wie Schwangerschaftstests, sind für alle Frauen entwickelt. Hier wird das Ergebnis nicht durch einen Strich sondern einen fühlbaren Punkt angezeigt. Wenn ein Punkt sich anhebt heißt das positiv, zwei Punkte zeigen ein negatives Ergebnis.
Wenn es um innovative Ideen für alle geht, wird in dieser Welt möglichst jeder mitgedacht. Das heißt nicht, dass immer alles perfekt funktioniert, aber im Prozess der Entwicklung wird sich bemüht mit den Menschen zu sprechen. Beamtinnen und Beamte, Entwicklerinnen und Entwickler und auch alle anderen sprechen nicht übereinander sondern miteinander. Wenn es um Menschen mit Behinderung geht, werden diese auch zu Debatten geladen. Allgemein spart man sich auf dem Sehstern das Gefühl übergangen zu werden. Da Aufklärung und gegenseitige Hilfe bereits in der Schule teil des Lehrplans sind, lernen die Bewohnerinnen und Bewohner auf die verschiedensten Lebensrealitäten einzugehen. Wenn ihr also unterwegs seid, auch mit einer Begleitung, dann werdet ihr angesprochen – beim bezahlen beim Bäcker oder auch bei der Fahrkartenkontrolle.
Hier wird aufeinander Rücksicht genommen. So werden die Gehwege freigehalten: frei von Aufstellern, E-Rollern und Fahrrädern. Für die Letzteren gibt es auch extra Parkplätze und Garagen. Gerade bei den E-Rollern wurde darauf geachtet. Sie können von allen über ihr Handy ausgeliehen werden. Dafür muss man nur eine Zahlungsmethode, wie eine Bankkarte hinterlegen. Wer seinen Roller dann nicht ordnungsgemäß abstellt, bekommt automatisch 250 Euro abgebucht. Das hat Wirkung gezeigt.
Gerade das Fahrrad wird aber gern verwendet und so gab es ein tolles Team, welches ein selbstfahrendes Fahrrad entwickelt hat. Es fährt autonom und hilft auch beim halten des Gleichgewichts. Treten muss man aber natürlich selbstständig.
Wer lieber zu Fuß die Gegend erkundet der merkt, hier sind alle Ampeln mit akustischen Signalen sowie einer Vibrationsanzeige ausgestattet. Die Wege besitzen alle Leitsysteme. Straßenschilder stehen soweit abseits, dass niemand sich den Kopf stößt, außer man legt es natürlich darauf an. Allgemein ist die Stadt etwas bunter, so wie auch die Straßenpoller. Hier wurde das Projekt des DBSV vom Sehbehindertentag 2021 ausgewertet. Es konnten natürlich nicht überall so schön rot-weiß-gestrickte Überzieher gefertigt werden. Hier wurden die Poller gleich angemalt und das nützt nicht nur unseren sehbehinderten Mitbewohnern, sondern auch denen die öfter mal abgelenkt sind. Sagen wir so: Es wird sich deutlich weniger gestoßen.
Wer hier wohnt ist es gewohnt, dass viel digital funktioniert. So sind Apps und Internetseiten natürlich barrierefrei. Alle Schaltflächen haben einen Namen, alle Bilder und Videos verraten, was auf ihnen zu sehen ist. Wer einen Beitrag auf Social Media posten will, der muss einen Alternativtext schreiben. Ja, man muss, denn sonst wird der Beitrag nicht hochgeladen. Stichworte zählen übrigens nicht. Man mag es kaum glauben, aber wer seinen Beitrag mal beschreiben musste, der weiß, man reflektiert noch einmal was man da gerade hochladen will. Es kommt immer wieder vor, dass nach dem Schreiben sich die Leute doch noch einmal überlegen, ob es das jetzt wert war.
Die Bildbeschreibungen helfen besonders beim Online-Shopping. Hier muss keiner Angst haben ein Produkt zu kaufen, welches er oder sie nicht wollten. Das schützt natürlich nicht vor unüberlegten Ausgaben. Da wie oben beschrieben auch die barrierefreie Handhabung von Menschen mit Behinderung mitgedacht wird, muss auch niemand zittern, dass die gekaufte Technik nicht zu bedienen wäre. Und natürlich können auch Konzert- und Veranstaltungskarten von allen online (ohne einen Aufpreis zu zahlen) gekauft werden. Das ist bei dem größten Ticketanbieter Deutschlands ja leider, wenn man ein kostenloses Begleitticket bestellen möchte, nicht so.
Auch Anträge und Formulare können online heruntergeladen, ausgefüllt und versandt werden. Das spart allen Zeit, Papier und vor allem Platz.
Einige Dinge des Alltags bleiben einem nirgendwo erspart und dazu zählt das Einkaufen. Hier habt ihr verschiedene Möglichkeiten. Alle Einkaufsläden müssen ja Produkte einkaufen und haben daher Produktlisten, was der Laden zu bieten hat. Diese kann jeder online einsehen und das inklusive einer Liste an Nährwerten und Inhaltsstoffen. Nun kann man die Produkte einerseits bestellen und sich für einen Aufpreis nach Hause liefern lassen, die Einkäufe abholen oder man hat die Möglichkeit eine Einkaufsassistenz in Anspruch zu nehmen. Diese hilft euch dann vor Ort einkaufen zu gehen. Durch die Bereitstellung der Infos können sich alle besser vorbereiten: Menschen mit Allergien, Leute die sehr wenig Zeit haben und die Woche noch spät abends am Handy planen, geheingeschränkte und seheingeschränkte Kunden und Viele mehr.
Der vorerst letzte Punkt unserer Führung zeigt die Schulen. Vielleicht wundert ihr euch, weshalb hier alle mit so kleinen, leichten Taschen herumlaufen. Die Grundlage für das Lernen in der Schule sind Tablets bzw. Laptops. Auf den Tablets der Kinder sind alle Lehrmaterialien: Bücher, Arbeitshefte, Notizblöcke, etc.
Die Kinder haben keine Rückenschmerzen und natürlich ist die Ausrede: „Ich habe mein Buch oder die Hausaufgaben vergessen“, absolut unglaubwürdig. Auch die Lehrer sparen sich den Stress des Kopierens und Abheftens. Das Zettelchaos war gestern.
Wenn etwas an die Tafel geschrieben wird, wird das Tafelbild für die Lernenden abgespeichert. So haben auch alle die notwendigen Infos in zugänglicher Form zum Lernen.
Ähnlich läuft es im Arbeitsalltag. Auch bei uns haben die Jobs, Ausbildungs- und Studiengänge verschiedene Zugangsvoraussetzungen und manchmal auch Ausschlusskriterien. Wir können keine seheingeschränkten Chirurgen einstellen, aber in vielen anderen Bereichen finden sich Mittel und Wege. Bei den Berufen und Lehrgängen wo es ausgeschlossen ist, dass gewisse Menschen entsprechende Arbeiten ausführen können, sind wir aber transparent und ehrlich. Bei den meisten Jobs ist eine Sehbeeinträchtigung aber kein Problem, denn Arbeitnehmenden werden ohne lange Wartezeit die notwendigen Werkzeuge zur Bewältigung ihres Alltags an die Hand gegeben.
Das ist das Schönste an dieser Welt. Alle Menschen, ob mit Behinderung oder nicht, behandeln sich mit Respekt, sind ehrlich und auch offen Dinge anders zu gestalten. Hier kann jeder etwas schaffen und wenn nicht wie gewohnt, dann eben anders. Es gibt kein normal, denn jeder Mensch ist anders und darf sein wie er will. Die persönliche Freiheit endet erst da, wo das Persönlichkeitsrecht des anderen beginnt.
Es ist aber nun einmal anders
Kehren wir zurück könnten wir etwas enttäuscht sein. Viele Dinge auf dem Sehstern wären auch bei uns so einfach umzusetzen. Meist ist eigentlich alles da was wir wissen sollten und doch tappt man immer wieder in Baustellen der Barrierefreiheit. Aber Kopf hoch! In den letzten Jahren hat sich viel getan und der Fortschritt in punkto Digitalisierung macht auch einiges leichter. Für die positive Veränderung kann auch jeder Einzelne von uns kämpfen. Durch Aufklärungskampagnen, Gespräche und Co. können wir zeigen, wie eine Welt für alle aussehen könnte. Von dieser würden oft auch andere profitieren: freie Gehwege nützen beispielsweise Eltern mit Kinderwägen, Menschen mit einem Rollstuhl oder einem Rollator, Reisenden mit Koffern und allgemein jenen die keinen Slalom laufen wollen.
Gemeinsam können wir auch unsere Welt gestalten!
Ach ja: ein riesiges Dankeschön geht übrigens an unsere WhatsApp-Community die mit ihren Ideen dieser Utopie erst Leben eingehaucht hat.