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Fernweh nach der Fremde - auch Blind kein Problem

Verfasst: 22.07.2020, 10:45
von Stephan Dietrich
Ungefähr einmal im Monat pendle ich mit dem Zug von München nach Erfurt, um meine Familie in Nurzen zu besuchen. Heute möchte ich euch von meiner Fahrt
zum Führhundhaltertreffen im Juli 2019 berichten. Wer nun glaubt, Zugfahrten seien langweilig, der hat erst einmal nicht Unrecht. Was ich auf dieser Fahrt
erlebt habe, und mit was eine Zugfahrt für Blinde generell verbunden ist, möchte ich euch heute berichten.

Das Führhundhaltertreffen fand im Jahre 2019 am Wochenende vom 05.-07. Juli in Berlin im
Hotel Müggelsee
statt.

Reisevorbereitung

Bereits einige Tage vor der An- und Abreise buchte ich mittels meines Handys und der Deutsche Bahn App „DB Navigator“ die Tickets. Anschließend buchte ich dank der
DB-Mobilitätsservice-Zentrale https://www.bahn.de/p/view/service/barr ... blind_LZ01
jeweils zwei Sitzplätze in den Zügen meiner Reise. Wer schon einmal versucht hat eine mehrstündige Zugfahrt mit einem großem Labrador und nur einem Sitzplatz
zu überstehen wird wissen wie unbequem dies sein kann. Der Service wird von der Deutschen Bahn für mobilitätseingeschränkte Personen kostenlos angeboten
und hat mich bisher immer begeistert. Weiterhin telefonierte ich mit dem
VBB Bus & Bahn-Begleitservice Berlin, https://www.vbb.de/fahrplan/barrierefrei-fahren/
um Hilfe bei der Reise im mir unbekannten Berlin vom Hauptbahnhof zu meinem Ziel zu erhalten. Mobilitätsdienste werden von vielen Verkehrsbetrieben, Städten
und Sozialeinrichtungen angeboten. Sich über mögliche Angebote zu informieren lohnt sich immer und sollte bei der Planung einer Reise zumindest berücksichtigt
werden. Ich hatte die letzten Jahre selten negative Erfahrung und wusste die Hilfe bisher immer sehr zu schätzen.

Mit Vollgas in die Verspätung

Die Zugfahrt fing erst einmal gut an. Ich versuche immer, meist erfolglos, etwas früher da zu sein. Schließlich benötige ich die Hilfe eines Mitreisenden,
um über den Wagenstandsanzeiger (die Anzeige am Bahnsteig) herauszufinden, wo mein Zugabteil stehen bleiben wird. Am Abreisetag stand ich mit Denny um
10:15 Uhr passgenau am Bahnsteig. Ihr werdet es mir sicher nicht glauben doch die Bahn war pünktlich.

Schnell sprach ich eine junge Frau an, um zu erfahren wo ich für meine zwei reservierten Plätzen 143+144 in Wagen 5 einsteigen muss. Leider klappte es
diesmal nicht so gut und ich fand ich mich in der Situation wieder mich im bereits fahrenden Zug von Wagen 7 bis nach 5 vorkämpfen zu müssen. Das hatte
ich unterschätzt, da ich die Rechnung ohne jene Reisende gemacht hatte, die sich von Wagen 5 zu Wagen 7 vorarbeiteten. Der Mittelgang ist einfach zu schmal
für solche Völkerwanderungen. Im Wagen 5 angekommen fand ich über die Braille Beschriftung an den Kopflehnen der Sitze meine reservierten Sitzplätze und
nahm diese schnellstmöglich ein.

Da Denny es bereits gewohnt ist, dass wir jetzt eine ganze Weile fahren werden, hat er es sich gleich im Fußraum des Sitzes an der Fensterseite bequem
gemacht. Ich platziere Denny immer unter diesem Sitz damit niemand ausversehen seinen Schlaf stört und setze mich lieber auf den unruhigeren Sitz am Gang.
Anschließend teilte ich noch, wie Nico Rosberg in der DB Werbung, über das Komfort Check-in der DB Navigator App dem Bahnpersonal mit, dass ich an Bord
bin und der Schaffner mich bei Fahrscheinkontrollen nicht stören muss.

Endlich zur Ruhe kommen, entschleunigte der Zug bereits wieder. Wir erreichten Nürnberg und waren nach einer eigentlich einstündigen Fahrt bereits 30
Minuten zu spät. Ich befürchtete kurz nicht mehr pünktlich in Berlin für das Treffen anzukommen, sondern beim Ankommen bereits wieder den Rückweg antreten
zu dürfen. Doch als geübter Zugreisender weiß ich, dass alles Meckern und Maulen nichts bringt und hoffte das Beste. Nach einem sehr kurzem Halt in Nürnberg,
der mir deutlich kürzer vor kam als üblich, nahm der ICE wieder Fahrt auf. Beim Halt in Erfurt teilte die Schaffnerin über die Lautsprecher mit, dass aus
den 30 Minuten Verspätung bereits wieder nur noch 20 geworden waren. Als der Zug hielt wurde Denny unruhig - er muss Erfurt verstanden haben und hier steigen
wir normalerweise aus. Ich beruhigte ihn und gab ihm den Befehl sich wieder hinzulegen. Die Fahrt ging wieder nach einem gefühlt ungewöhnlich kurzem Halt
weiter und als der Zug bei Halle (Saale) einfuhr teilte die Schaffnerin mit, dass der Zug nun seine Verspätung auf 10 Minuten minimiert hatte. Ich freute
mich, eventuell doch noch pünktlich anzukommen.

Zu früh gefreut. Plötzlich kommt ein Mitarbeiter der Bahn des Weges. Wie in einem Zug üblich bewegte auch er sich nur in eine der zwei möglichen Richtungen.
Alles andere wäre Aussteigen, was während der Fahrt nicht gerne gesehen wird. „Jemand Kaffee, Cappuccino oder ein Kaltgetränk?“, rief er, beim Hereinkommen
durch unseren Waggon. Diese Mitarbeiter sind immer sehr zügig unterwegs und ehe ich reagieren kann, steht er schon am anderen Ende des Abteils. „Halt!“,
rief ich „Moment! Kaffee weiß! Hätte ich gerne!“ Der Mitarbeiter kommt nach einem kurzem Zögern zurück, reicht mir den Pappbecher mit Hitzeschutzmanschette
und verlangt regelkonform die Gegenleistung: „Drei Euro dreißig, bitte.“ Mit dem Becher in der Hand stellte sich auch bei mir eine gewisse Entspannung
ein. Der kräftige Kaffee passte gut zu dem Wurstbrot, welches ich aus meinem Rucksack holte. Wie für viele ist es auch für mich ein großer Pluspunkt, dass
man während der Bahnfahrt diese Freiheit hat.

Die letzten Meter

Am Berliner Hauptbahnhof angekommen nahm mich sogleich, wie vorab vereinbart, ein netter Mitarbeiter des VBB Begleitservice in Empfang. Er brachte mich
sehr geübt im Führen von Blinden auf dem schnellsten Wege zu einer Wiese, damit Denny sich erleichtern konnte. Nachdem dies erledigt war, begleitete er
mich mit der S-Bahn und anschließend mit dem Bus zu meinem Zielort, dem Hotel am Müggelsee, in dem das Führhundhaltertreffen stattfinden sollte. Ihr werdet
es nicht glauben, ich war pünktlich :-) Ob ich das, selbst mit perfekter Vorbereitung, problemlos und in der kurzen Zeit geschafft hätte wage ich zu bezweifeln.
Auch dieses mal war der Begleitservice eine enorme Erleichterung. In einer Stadt ohne ein solches Angebot hätte ich mir wohl ein Taxi genommen. Egal welche
Lösung man letztlich wählt, einen Weg gibt es sprichwörtlich immer.

Fazit

Wie Ihr seht, gehört nicht viel dazu als Mensch mit Sehbehinderung längere Reisen zu neuen Zielen anzutreten. Die verständliche Angst vor unbekannten Gegenden
und auf übermäßige fremde Hilfe angewisen zu sein existiert immer. Meine Erfahrung ist, dass mit der richtigen Vorbereitung und durch Aufmerksamkeit während
der Reise die meisten Probleme vermieden werden können. Sich zu verlaufen oder nachfragen zu müssen ist dadurch kaum noch nötig. In dieser Art ist das
Reisen auch für mich als Blinder sehr angenehm.

Ich hoffe bei Euch die Lust auf eine Reise ins Unbekannte geweckt zu haben und würde mich über Berichte Eurer eigenen Erfahrungen freuen.
Dieser Artikel war ursprünglich unter: https://blindfuchs.de/alltag/125-zugfahrt erschienen.