Blinde und sehbehinderte Menschen in der Zeit des dritten Reichs

Eine Behinderung kann kompliziert sein, gerade, wenn sie neu aufgetreten ist. Andere Menschen können kompliziert sein im Umgang mit Behinderung. Hier könnt ihr Erfahrungen austauschen.
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Blinde und sehbehinderte Menschen in der Zeit des dritten Reichs

Beitrag von Sophie Heinicke » 08.05.2023, 12:23

Otto Weidt hat in seiner Werkstatt junge blinde und sehbehinderte Jüdinnen und Juden aufgenommen um sie vor den Nationalsozialisten zu verstecken. Mit diesem und weiteren Fällen und Themen befasst sich die Forschungsgruppe um Martina Wiemers.

Die Gruppe ist Anfang 2021 entstanden. Die Impulsgeberin war Martina Wiemers von der Deutsche Hörfilmgesellschaft(DHG). Der Auslöser war ein Bericht eines blinden Mannes und seiner sehenden Ehefrau (Ehepaar Frei). die in dieser Werkstatt von Otto Weidt gearbeitet haben. Vor allem er hat seine Erlebnisse der Jahre 1938 bis 1942 für seine Töchter dokumentiert. Den Text des Ehepaars Frei hatte Martina in die Hände bekommen und startete einen Aufruf, wer Interesse hätte sich mit dem Thema aber auch mit dem Schicksal des Ehepaares zu beschäftigen.
Das Ehepaar ist zuerst in den Untergrund gegangen, wurde aber verraten. Sie kamen nach Theresienstadt und 1944 schließlich nach Auschwitz, wo sie auch ermordet wurden.
Die Forschungsgruppe die diesen Geschichten und Schicksalen auf den Grund geht, besteht wechselnd aus 10 bis 15 Mitgliedern.

Motivation der Forschungsgruppe
Ein Mitglied erzählt: Meine Großmutter hat ihren Vater in einem Außenlager von Auschwitz verloren. Unsere Familie mütterlicherseits hat Auschwitz auch immer wieder besucht. Wir als Familie, aber insbesondere ich als ehemaliger Geschichtslehrer, haben uns immer wieder gefragt, wie man solche Fälle einfach vergessen kann. Das Thema kommt immer wieder auf den Tisch, vor allem wenn man von anderen Fällen hört, denn die Geschichte ist für uns noch nicht auserzählt. Wir haben den Wunsch mehr zu erfahren.
Meine Großmutter wusste sehr wenig, wollte davon aber auch recht wenig erzählen. In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg war es auch nicht besonders erwünscht über solche Themen zu sprechen. Sie hat also 40 bis 50 Jahre geschwiegen. Das ist einer meiner Beweggründe, mehr zu erfahren und anderen Antworten zu geben.
Man wollte aber auch mehr über das Ehepaar Frei erfahren, welche Menschen dahintersteckten. Wie fühlten und handelten sie, insbesondere im Hinblick auf die Gedanken, dass sie diese Zeit nicht überleben würden.

Eine andere Mitwirkende berichtet: Ich möchte auch gegen das Vergessen wirken. Ich bin durch meine Mutter mit dem Thema vertraut geworden. Sie hatte den Krieg und die Flucht auch erlebt und ist dadurch erkrankt. Sie hat mir darüber viel erzählt. Später bin ich dann auch der christlich-jüdischen Gesellschaft in Siegen beigetreten.

Der Brief
Martina Wiemers hat der Forschungsgruppe das Manuskript, in Blindenschrift sind es über hundert Seiten, zur Verfügung gestellt. Alle Mitglieder der Forschungsgruppe haben es gelesen und sich ausgetauscht, wie sie die geschriebenen Worte interpretieren. „Wir haben uns gegenseitig gefragt: Wie steht ihr zu diesem Bericht? Was für ein Bild macht ihr euch von Herrn Frei? Dann ist die Überlegung entstanden: Was machen wir jetzt mit diesem Bericht? Was sagt er uns und können wir das auch in die Öffentlichkeit transportieren?“ Daran hat die Gruppe dann längere Zeit, genauer gesagt bis heute, weitergearbeitet.

Der Bericht von Herrn Frei, der als ehemaliger Bankangestellter erblindet ist, war für seine beiden Töchter geschrieben worden. Er wurde in der Hoffnung geschrieben, dass diese den Brief in friedlicheren Zeiten in die Hände bekommen würden. Der Bericht beginnt im August 1938 mit der Ausreise der Töchter. Eine der Töchter ging nach England, die andere nach Israel. Die Hoffnung der Freis war, dass die Töchter den Brief lesen würden und dies ist dann tatsächlich auch auf abenteuerlichen Wegen geschehen. Seine schriftlichen Ausführungen enden im Mai 1942 als das Ehepaar abtauchte.

Herr Frei hat in der Otto-Weidt-Werkstatt gelernt, in der Hoffnung im Ausland doch noch einen Beruf zu ergreifen, den man als blinder Mensch machen kann. Er beschrieb seinen Alltag und die immer mehr zunehmenden Sanktionen gegen die Juden, die das Leben immer mehr einengten.
Kurt Schilde hat die Geschichte der Familie Frei aufgearbeitet und sogar ein Buch dazu veröffentlicht. Es heißt „Wahrscheinlich wird das unser Untergang sein“ und wurde 2019 veröffentlicht. Die Informationen waren für die Forschungsgruppe sehr wertvoll. Weiteren Input erhielt die Gruppe von Caroline Georg die Vorträge darüber hielt, wie Juden damals in Berlin versteckt und verschleppt wurden.

Wie ist mit blinden Menschen im dritten Reich umgegangen worden?
Es gibt eine Doktorarbeit von Gabriel Richter zum Thema Blindheit und Nationalsozialismus. Durch diese Arbeit brach damals in den Vereinen eine Diskussion auf, wie es blinden Menschen zu dieser Zeit eigentlich erging: als Opfer, aber vielleicht auch als Täter. Es wurden alle Facetten von Zwangssterilisation bis zur Euthanasie (rechtlich beschlossene Pflicht der Nationalsozialisten sich der "Defektmenschen" und "Ballastexistenzen" titulierten Behinderten zu entledigen) betrachtet. Die Ergebnisse der Diskussionen wurden in einer Broschüre zusammengefasst: Blinde unterm Hakenkreuz.

In der DDR gab es ein Werk zur Geschichte des Blindenwesens, welches 1972 erschien. Viele Fragen sind jedoch offengeblieben. Durch das Erb-Gesundheitsgesetz wurden ab 1933 Zwangssterilisationen durchgeführt. Welche weiteren Folgen hatte diese Praxis? Wie ist man mit den Opfern umgegangen?
Eine Entschädigung der Menschen die von Sterilisation betroffen waren, gab es erst im Jahre 1980. Ab 1988 gab es dann auch eine angepasste Rente. Sehr spät, erst 2007, erklärte der Bundestag, dass das oben genannte Gesetz, ein Gesetz typisch nationalistischen Unrechts sei. Bis dahin sind die Opfer dieses grausamen Gesetzes nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt worden.

Blinde und sehbehinderte Täter
Der Forschungsgruppe liegt ein Beispiel vor, welches in der Festschrift des westphälischen Blindenvereins zu lesen war. Dort wurde der Fall eines erblindeten Augenarztes geschildert, der vor Eltern Vorträge hielt, in welchen er sagte, dass die Kinder bei Erbblindheit doch bitte sterilisiert werden sollten, um die nationalsozialistische Gesellschaft zu stärken. Wer Opfer und wer Täter ist, ist jedoch in Anbetracht der damaligen Zustände schwer zu sagen. Es gibt noch viele offene Fragen.

Wie geht es weiter? Was sollte man tun?
Es gibt viele Fragen die sich noch stellen, unter anderem die nach der Rolle der Blindenschulen im dritten Reich. Wie war die Rolle der Verbände? Es gab eine Reihe an Blinden in Theresienstadt. Über ihre Schicksale und wie sie überhaupt dort überlebt haben bzw. starben, wissen wir noch längst nicht alles. Es gibt daher großes Interesse in der Forschungsgruppe aber auch allgemein in der Forschung solche Themen aufzuarbeiten.

„Wir müssen die Erinnerung wachhalten, damit so etwas nie wieder passiert.“ Die Forschungsgruppe möchte gegen jede Art von Rassismus und Diskriminierung kämpfen und dass ohne mit dem Finger auf andere zu zeigen.
Wer Interesse hat an der Aufklärung der Schicksale Betroffener, wie die der Familie Frei, mitzuwirken, kann sich an Martina Wiemers wenden.
E-Mail: wiemers.m@hoerfilm.de

(Artikel aus der Mai-Brücke 2023 von der Forschungsgruppe um Martina Wiemers; geschrieben von Sophie Heinicke)

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