Begegnung zweier Kulturen - Über Missverständnisse mit ukrainischen Blinden und Sehbehinderten

Eine Behinderung kann kompliziert sein, gerade, wenn sie neu aufgetreten ist. Andere Menschen können kompliziert sein im Umgang mit Behinderung. Hier könnt ihr Erfahrungen austauschen.
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Begegnung zweier Kulturen - Über Missverständnisse mit ukrainischen Blinden und Sehbehinderten

Beitrag von Julia Mostowa » 30.08.2022, 16:59

Wir können einander nicht immer gut verstehen. Stress durch Krieg erklärt nicht alles. Warum verstehen wir Wörter, doch erfassen manchmal nicht die Bedeutung?

Viele Barrieren werden durch Lebensumstände geschaffen. Die harte sowjetische Vergangenheit beeinflusst noch immer das Weltbild und das Verhalten der ukrainischen Gesellschaft. Wichtige und interessante Details dazu berichtet Andrij Kusmenko, Psychologe aus der Ukraine.

Fassade und Realität:
Das Leben in der UdSSR war schrecklich, aber viele Menschen erinnern sich gerne daran.
„Man erzählt oft, wie gut Schwerbehinderte damals lebten. Aber ich sah ein ganz anderes Bild. Mein Nachbar verlor im Krieg seine Beine. Er bewegte sich auf einem Brett mit Rädern, die er selbst herstellte.“, kommentiert Andrij Kusmenko. „Die sowjetische Regierung gab Unterstützung nur in Worten.“

In der UdSSR, ebenso wie im Dritten Reich oder im alten Rom, existierte ein einfaches Narrativ: „Wir sind eine ideale Gesellschaft mit idealen Menschen. Hier gibt es keine Unglücklichen, Kranken und Verkrüppelten“. Hinter der Fassade der Schönheit und Idealität durfte all dies nicht sichtbar sein.

„Man predigte uns von Kindheit an, dass eine Behinderung schrecklich und schändlich ist. Also muss man alles dafür tun, damit dies nicht sichtbar ist. Eine Behinderung ist wie eine Seuche. Man soll einen infizierten Menschen meiden, um sich selbst nicht anzustecken“, sagt Herr Kusmenko.
"Darauf stützte sich die sowjetische Politik. Die Gesellschaft brauchte eine gesunde Person, die morgens Sport treibt und fröhlich zur Arbeit läuft, nicht im Rollstuhl fährt, oder mit einem Blindenstock geht.“ Die Aufgabe der Sowjetunion war, alles was möglich ist aus einem Menschen herauszupressen und ihn dann an den Rand der Gesellschaft abzuschieben."

Behinderte Menschen brauchen Sozialisation und Unterstützung, sie konnten der UdSSR nichts geben.
Also wurden Behinderte isoliert. Sie lebten und arbeiteten in speziellen Bezirken. Sie waren nicht in der Menge, sie nahmen nicht am gesellschaftlichen Leben teil.
„Bis jetzt lebt unser Staat nach dem Prinzip: Wir geben dir (einem Behinderten) Geld, sorge dafür, dass dich keiner sehen kann“, erklärt der Psychologe Kusmenko.

Aber, um dieses Geld zu bekommen, muss man eine schlimme und stressige Bürokratie durchlaufen.
In der gesellschaftlichen Wahrnehmung bedeutet Behindert oder Rentner zu werden — mit einem Fuß ins Grab zu treten. Dann kann man sich mit einem Laken zudecken und langsam zum Friedhof kriechen. Von solchen Leuten verlangt und erwartet man nichts. Sie sind umgeben von überbehütenden verwandten. So werden Behinderte Menschen zu großen Kindern — hilflos und angepasst an dieses Leben.

Ukrainische Behinderte dachten, dass im Deutschland dieselbe Situation herrscht. Sie hatten viele Illusionen über das Leben im wohlhabenden Europa. Sie dachten, dass sie gutes Geld bekommen werden und jemand sich ständig um sie kümmern wird. Diese Leute hatten keine Ahnung, dass man anders leben kann. Die Enttäuschung sorgt für Konflikte.

Integrationsschwierigkeiten:
Für viele Menschen aus der Ukraine ist es sehr schwer, sich in die Deutsche Kultur zu integrieren. Aber heute gibt es keinen großen Unterschied zwischen der Deutschen und der Ukrainischen Kultur. Also warum können viele Menschen Deutsche Regeln nicht akzeptieren?

„Stellen Sie sich vor, dass Sie auf einem Stuhl sitzen und diesen Artikel lesen. Dann kommt jemand mit einem Fass Schwefelsäuere und sagt: „Springen Sie rein! Sie werden Teil dieses großen Fasses!“ So denken viele Menschen über Integration“, erklärt Andrij Kusmenko.

Diese Vorstellung hat einen sehr starken historischen Grund. Viele Jahrhunderte lang verfolgte Russland eine harte Politik der gewaltsamen Russifizierung in der Ukraine. In der UdSSR wurde alles ukrainische zerstört, um in der Ukraine ein unterwürfiges Sowjetfolg zu schaffen. Russifizierungsversuche werden immer noch unternommen. Also, die Erfahrung zeigt: Das Erlernen der deutschen Kultur bedeutet, die eigene aufzugeben.

Die gemeinsame Sprache: was ist die ukrainische Kultur?
Die Ukraine stand unter sowjetischem Einfluss, doch sie ist Teil der europäischen Kultur. Aber natürlich sind Ukrainer*innen etwas anderes, als Deutsche.
Menschen aus der Ukraine sind sehr emotional. Sie verlassen sich oft auf ihre Intuition. Ukrainer*innen nehmen sehr schnell und leicht Kontakt mit anderen Menschen auf. Manchmal reichen ein paar Minuten, um Freunde zu finden und einen Spaziergang für das Wochenende zu planen. Die Hauptsache ist ein gemeinsames Thema zu finden. Ukrainer*innen mögen nicht viel Förmlichkeit in der Kommunikation.
Sie sind besonders gastfreundlich. Wenn sie Gäste haben, werden sie alles bieten, was es im Kühlschrank gibt.
Einen freundlichen Besuch zu machen, ist eine beliebte Freizeitbeschäftigung. Gastgeber*innen wollen immer ihre Freunde überraschen. Zu jeder Homeparty kocht man etwas neues. Das Essen sollte schön dekoriert Sein.
Ukrainer*innen interessieren sich sehr für neue Hochtechnologien und Politik. Mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgen sie die politischen Ereignisse in der Ukraine und im Russland. Die Ukrainischen Menschen wenden verschiedene Methoden an, um die Situation in ihrem Land zu beeinflussen. Oft benutzen sie dafür Facebook und es funktioniert gut. Sie drücken Kritik oft in ironischen Memen aus. In der Regel richtet sich diese Kreativität gegen die Thesen der russischen und weißrussischen Propaganda.

Nach der Sowjetunion ist es sehr schwierig in der freien Welt zu leben, wo die wichtigsten Ressourcen Unabhängigkeit und Verantwortung sind. Auf jeden Fall sollten wir uns zusammenschließen, um das Böse zu besiegen, das zu lange ungestraft war.

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