Kognition und Vertrauen

Eine Behinderung kann kompliziert sein, gerade, wenn sie neu aufgetreten ist. Andere Menschen können kompliziert sein im Umgang mit Behinderung. Hier könnt ihr Erfahrungen austauschen.
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Kognition und Vertrauen

Beitrag von Sophie Heinicke » 05.08.2025, 12:37

Wie du andere Menschen auch ohne Blickkontakt verstehen kannst

Was bedeutet Kognition?
Kognition ist ein Sammelbegriff für all das, was in deinem Kopf passiert, wenn du die Welt verstehst: Denken, Erinnern, Aufmerksamkeit, Sprache – und auch das Einschätzen von anderen Menschen.
Ein Teil davon heißt soziale Kognition. Damit ist gemeint:
Wie gut kannst du erkennen, was andere fühlen oder denken? Verstehst du, ob jemand traurig, ehrlich, wütend oder begeistert ist?

Was passiert bei fehlendem oder eingeschränktem Sehen?
Vielleicht kennst du das: Viele Menschen orientieren sich an Gesichtsausdrücken oder Blicken. Wer nicht sieht oder nur eingeschränkt sieht, hat keinen Zugang zu diesen Signalen. Aber das heißt nicht, dass du schlechter verstehst, wie es jemandem geht – du nutzt nur andere Wege:
• Du hörst genau hin.
• Du nimmst wahr, wie jemand spricht: Tonfall, Tempo, Pausen.
• Du achtest darauf, was gesagt wird – und wie.

Das Gehirn passt sich an
Wenn du von Geburt an blind bist, nutzt dein Gehirn Bereiche, die bei Sehenden eigentlich für das Sehen zuständig sind, für etwas anderes: zum Beispiel für das Verstehen von Sprache oder für das Hören.

Forschende haben bei Kindern im Alter von fünf Jahren gezeigt: Wenn sie blind geboren wurden, ist beim Zuhören der gleiche Teil des Gehirns aktiv, den andere Kinder zum Sehen brauchen. Das bedeutet: Dein Gehirn kann sich wunderbar anpassen und Informationen anders verarbeiten – auf deine Weise.

Wie gut kannst du Menschen einschätzen?
Psychologinnen und Psychologen nennen das Theory of Mind – also die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen.
Du kannst dir zum Beispiel denken: “Die Person klingt unsicher, vielleicht ist sie nervös.”
Oder: “Der Tonfall war eher ironisch – das war wohl nicht ganz ernst gemeint.”

Wenn du von Geburt an blind bist, brauchst du für diese Fähigkeit oft etwas mehr Unterstützung in der Kindheit – einfach, weil dir viele nonverbale Hinweise fehlen. Aber du kannst das alles lernen – mit Sprache, mit Kontakt zu anderen, mit Erfahrung.

Vertrauen – fällt das schwerer?
Manche glauben, dass blinde Menschen vorsichtiger oder misstrauischer sind. Aber: Eine wissenschaftliche Studie aus Polen hat gezeigt, dass blinde Menschen genauso viel Vertrauen in andere haben wie Sehende. Sie nehmen Menschen nicht negativer wahr – und sie vertrauen auch nicht leichtgläubiger. Sie vertrauen einfach anders:
• Auf die Stimme
• Auf Worte
• Auf das, wie jemand sich dir gegenüber verhält

Du brauchst keine Augen, um ein Gefühl dafür zu entwickeln, ob jemand ehrlich, freundlich oder zuverlässig ist.

Was bedeutet das für dich?
Hier sind ein paar wichtige Erkenntnisse für dich zusammengefasst:
• Dein Gehirn kann sich super anpassen – egal ob du seit Geburt blind bist oder erst später geworden bist.
• Du kannst andere Menschen genauso gut verstehen wie Sehende – du nutzt andere Hinweise dafür.
• Vertrauen ist keine Frage des Sehens, sondern des Einschätzens – und das kannst du sehr gut lernen und weiterentwickeln.
• Sprache, Tonfall, Kontakt und Erfahrung sind deine Werkzeuge.

Warum ist das wichtig?
Viele Menschen (auch Fachleute) haben veraltete Vorstellungen. Sie denken, man könne ohne Sehen Menschen schwer einschätzen oder keine gute Beziehung aufbauen. Aber du weißt: Das stimmt nicht. Jetzt kannst du es auch mit Studien belegen!

Wenn du von Anfang an gefördert wirst, wenn dir Zusammenhänge erklärt werden, wenn du gefragt wirst, wie du Menschen einschätzt – dann lernst du genauso, anderen zu vertrauen, Gefühle zu erkennen und eigene gut auszudrücken.

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