Moral Licensing – Wenn sich Menschen mit einer guten Tat von echter Inklusion freikaufen

Eine Behinderung kann kompliziert sein, gerade, wenn sie neu aufgetreten ist. Andere Menschen können kompliziert sein im Umgang mit Behinderung. Hier könnt ihr Erfahrungen austauschen.
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Moral Licensing – Wenn sich Menschen mit einer guten Tat von echter Inklusion freikaufen

Beitrag von Sophie Heinicke » 24.06.2025, 14:55

Vielleicht kennst du solche Situationen: Du bekommst Hilfe beim Einsteigen in den Bus, worüber du dich ehrlich freust. Doch später merkst du, dass dieselbe Person gereizt ist, weil du beim Einkaufen mehr Zeit brauchst oder eine Frage zu einer Barriere hast.
Oder: Eine Behörde lobt sich für eine barrierefreie Ampel – aber bei digitalen Formularen heißt es: „Das lohnt sich nicht.“

Was da passiert, hat einen Namen: Moral Licensing – ein psychologisches Phänomen, das vielen Menschen nicht bewusst ist, aber in unserem Leben als blinde oder sehbehinderte Menschen spürbare Folgen hat.

Was ist Moral Licensing?
Moral Licensing beschreibt ein Denkverhalten, bei dem jemand nach einer guten oder solidarischen Handlung glaubt, sich später weniger korrekt verhalten zu dürfen – ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.

Ein Beispiel:
Eine Person spendet an eine Hilfsorganisation. Später äußert sie sich abwertend über Menschen mit Behinderung – denkt aber, dass das „nicht so schlimm“ sei, weil sie ja vorher „etwas Gutes getan“ hat.

Dieses Muster kann schnell gefährlich werden – besonders dann, wenn es nicht bei einer Einzelperson bleibt, sondern sich in Gesellschaft und Politik fortsetzt.

Wie zeigt sich Moral Licensing gegenüber blinden und sehbehinderten Menschen?
Wir erleben es oft – in Gesprächen, in der Schule, am Arbeitsplatz, im Verkehr oder in öffentlichen Einrichtungen.
Die Unterstützung, die wir erhalten, ist manchmal gut gemeint, wird aber anschließend als Ausrede genutzt, um echte Gleichstellung zu vermeiden.

Hier ein paar Beispiele:
Beispiel 1: Die einmalige Hilfsaktion: Jemand hilft dir, die richtige Bahn zu finden – was du vielleicht sogar aktiv eingefordert hast. Später sagt dieselbe Person: „Ich habe ja schon geholfen, ich kann nicht immer Rücksicht nehmen.“
Was hier passiert: Die einmalige Unterstützung wird als moralischer „Freifahrtschein“ gesehen – weitere Barrieren werden ignoriert oder sogar verharmlost.

Beispiel 2: Die symbolische Maßnahme der Stadt: Die Stadt rühmt sich, akustische Ampeln an Kreuzungen einzubauen.
Wenn dann ein Antrag auf barrierefreie Wahlunterlagen gestellt wird, heißt es: „Wir haben doch schon etwas für blinde Menschen getan.“
Auch hier: Eine einzelne Maßnahme wird als Grund genommen, andere wichtige Dinge zu verweigern – mit dem Gefühl: „Unsere moralische Pflicht ist erfüllt.“

Beispiel 3: Zwischenmenschlich – Hilfe statt Haltung: Eine sehende Kollegin liest dir ein Dokument vor. Du bist dankbar – aber als du vorschlägst, künftig barrierefreie Dateien zu verwenden, sagt sie: „Warum? Ich helfe dir doch gern.“
Das klingt nett, aber es zeigt: Statt echte Selbstständigkeit zu ermöglichen, wird die eigene Hilfsbereitschaft als Ersatz für Barrierefreiheit genutzt – und sogar als Argument gegen Veränderung.

Warum ist das ein Problem?
Weil es Fortschritt verhindert.
Wenn Menschen glauben, mit einer einmaligen guten Tat sei ihr Beitrag zur Inklusion getan, bleiben wir in alten Strukturen stecken. Dann wird aus Hilfe keine Teilhabe – sondern ein kurzzeitiges Wohlfühlprojekt für Sehende.

Für uns bedeutet das:
• Wir müssen uns ständig bedanken.
• Unsere Anliegen wirken wie „Forderungen“ statt wie berechtigte Rechte.
• Barrierefreiheit wird als freiwillige Leistung gesehen, nicht als Notwendigkeit.

Was kann helfen, um Moral Licensing zu entlarven?
1. Klar benennen, was passiert
Wenn du spürst, dass jemand Hilfe leistet, sich dann aber zurückzieht oder gegen Barrierefreiheit argumentiert, hilft es manchmal, das Phänomen ruhig zu erklären:
„Ich bin dankbar für deine Unterstützung, aber echte Barrierefreiheit ersetzt persönliche Hilfe – nicht umgekehrt.“

2. Verständnis wecken statt Schuld verteilen
Viele Menschen merken nicht, dass sie so denken. Es hilft, auf Augenhöhe aufzuklären – ohne Schuldzuweisung, aber mit klarer Haltung.

3. Forderungen nicht relativieren lassen
Wenn jemand sagt: „Wir haben doch schon XY gemacht“, kann die Antwort lauten:
„Das war ein guter Anfang – aber es geht noch viel mehr. Und wir reden hier über Gleichberechtigung, nicht über Gefälligkeiten.“

Fazit: Gute Taten sind schön – aber kein Freifahrtschein
Hilfe im Alltag, technische Unterstützung oder offene Gespräche – all das ist wertvoll.
Aber echte Inklusion braucht mehr als freundliche Einzelhandlungen. Sie braucht Strukturen, Barrierefreiheit, Beteiligung – und Menschen, die nicht aufhören, sich einzusetzen, nur weil sie einmal etwas „Gutes“ getan haben.

Moral Licensing ist ein stilles Hindernis. Aber sobald wir es erkennen, können wir es sichtbar machen – und Schritt für Schritt abbauen.

Was meinst du?
• Hast du solche Situationen auch schon erlebt?
• Wie gehst du damit um, wenn jemand sich nach einer kleinen Hilfeleistung gegen weitere Veränderungen stellt?
• Und was hilft dir, damit ernst genommen zu werden – jenseits von Dankbarkeit?

Teile deine Gedanken – gerne auch im Gespräch mit anderen. Denn Veränderungen beginnen oft dann, wenn wir gemeinsam darüber sprechen, was uns im Alltag wirklich begegnet.

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