“Der eine Blinde da – und warum das nicht reicht”: Tokenism bei Behinderung

Eine Behinderung kann kompliziert sein, gerade, wenn sie neu aufgetreten ist. Andere Menschen können kompliziert sein im Umgang mit Behinderung. Hier könnt ihr Erfahrungen austauschen.
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“Der eine Blinde da – und warum das nicht reicht”: Tokenism bei Behinderung

Beitrag von Sophie Heinicke » 28.05.2025, 14:45

Ein großes Unternehmen postet auf Instagram ein Gruppenfoto der Belegschaft: 40 lächelnde Menschen – und ganz rechts außen jemand mit einem weißen Stock. Unter dem Bild steht: „Vielfalt ist unsere Stärke!“
Du schaust dir das Foto an und denkst: „Moment mal … nur eine sehbehinderte Person? Und warum steht sie so halb hinter dem Topfpalmenbusch?“
Willkommen im Club der Tokenism-Opfer.

Was ist Tokenism überhaupt?
Tokenism (auf Deutsch: Alibi-Inklusion) bedeutet, dass eine Person aus einer marginalisierten Gruppe – hier: eine sehbehinderte oder blinde Person – sichtbar präsentiert wird, um den Anschein von Vielfalt, Gleichberechtigung oder Inklusion zu erwecken.
Aber: Die Inklusion ist oft nicht echt, sondern symbolisch.
Die Person ist da – aber nicht wirklich eingebunden, gefragt oder repräsentiert. Sie ist der „Vielfalts-Token“, nicht der gleichberechtigte Teil.

Man zeigt: „Schaut her, wir sind inklusiv!“
Aber lebt: „Hauptsache, wir haben jemanden – dann sind wir aus dem Schneider.“

Wie sieht Tokenism bei Sehbehinderung aus?
Hier ein paar klassische Beispiele:
1. Die blinde Frau im Werbespot
Die neue Kampagne einer Tech-Firma zeigt eine blinde Frau, die „mit innovativer App-Barrierefreiheit“ ihre Termine managt.

Was sie nicht zeigt: Dass dieselbe App im echten Leben weder mit VoiceOver noch mit TalkBack klarkommt – und blinde Menschen sie nur nutzen könnten, wenn sie hellsehen könnten.

2. Das Gremium mit „unserem blinden Kollegen“
Ein sehender Vorstand sagt: „Wir haben doch den Thomas dabei – der ist blind! Damit sind doch alle Perspektiven abgedeckt!“
Frage an Thomas: „Was meinst du zur allgemeinen Digitalstrategie der Barrierefreiheit?“
Antwort: „Ich arbeite eigentlich in der Buchhaltung und weiß nicht mal, was ihr meint.“

3. Das Foto mit dem weißen Stock
Ein Unternehmen will inklusiv wirken. Also: Blinder Praktikant wird fotografiert, am besten mit Stock oder Hund.
An seinem Arbeitsplatz wurde zwar kein einziger Screenreader installiert, aber hey: Das Foto ist Gold wert fürs Image.

Warum ist das ein Problem?
1. Es gaukelt Fortschritt vor, wo keiner ist.
Tokenism gibt das Gefühl: „Wir tun was für Inklusion.“ Dabei ändert sich strukturell gar nichts.
 Barrierefreiheit? Fehlanzeige.
 Mitbestimmung? Null.
 Perspektivenvielfalt? Einseitig.

2. Es isoliert die betroffene Person.
Der blinde oder sehbehinderte Mensch wird oft allein gelassen: ohne Tools, ohne echte Unterstützung. Dafür aber mit der Verantwortung, für „alle Blinden“ zu sprechen.
Frage: „Wie ist das denn für euch Blinde so mit dem Internet?“
Gegenfrage: „Wie ist das denn für euch Sehenden so mit der Steuererklärung?“
Eben.

3. Es verwässert echte Inklusion.
Echte Inklusion ist unbequem. Sie kostet Zeit, Mühe und Perspektivwechsel.
Tokenism dagegen ist bequem. Eine Person einstellen oder zeigen – und sich selbst auf die Schulter klopfen.
Problem gelöst? Nope.

Was wäre besser?
• Mehr als nur Symbolik. Statt ein Gesicht zu zeigen, lieber echte Barrierefreiheit schaffen. Und zwar nicht als Sonderlösung, sondern als Standard.
• Beteiligung statt Vorzeigen. Nicht über Menschen mit Sehbehinderung reden, sondern mit ihnen – und zwar nicht nur die eine Person im Rollenspielworkshop.
• Mehr Stimmen zulassen. Eine sehbehinderte Person kann nicht für alle sprechen. Es braucht Vielfalt innerhalb der Vielfalt.

Ein kleines Fazit mit Augenzwinkern:
Tokenism ist wie Rosinen in einem Brötchen zu haben:
Sieht man eine, denkt man: „Oh, lecker!“
Aber wenn du beim Essen feststellst, dass da genau eine Rosine drin war, denkst du eher: „Hätte man sich auch sparen können.“

Inklusion bedeutet: Rosinen überall. Oder besser noch – du entscheidest selbst, ob du Rosinen magst.

(Artikel aus der Juni-Brücke 2025 von Sophie Heinicke)

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