Was ist positiv an meiner Behinderung?

Eine Behinderung kann kompliziert sein, gerade, wenn sie neu aufgetreten ist. Andere Menschen können kompliziert sein im Umgang mit Behinderung. Hier könnt ihr Erfahrungen austauschen.
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Was ist positiv an meiner Behinderung?

Beitrag von Sophie Heinicke » 05.08.2024, 13:38

Ich habe mir lang überlegt, ob ich auf die Frage „Gibt es Dinge die positiv an deiner Blindheit sind?“ antworte. Die Frage hat mir ein Herr über mein privates TikTok-Profil gesendet und ich war sehr hin und her gerissen. Natürlich mache ich Content zu Themen die mit dem Thema Behinderung zu tun haben. Ich spreche darüber, was alles möglich ist, wo ich Barrieren im Alltag sehe und wie man diese lösen könnte. Schlussendlich würde ich mir aber auch drei Finger abschneiden um zumindest wieder mein Sehvermögen aus meiner Kindheit wiederzuerlangen. Das heißt nicht, dass ich unglücklich bin, denn ich liebe ja mein Leben und natürlich gibt es somit auch Dinge die positiv sind. Es gibt vieles das trotz meiner Behinderung positiv ist, aber es musste doch auch Dinge geben, die durch meine Behinderung mein Leben bereichern.

Darüber habe ich nun eine Woche lang nachgedacht. Meine Gedanken dazu möchte ich mit euch teilen und wer weiß, vielleicht geht es euch ja ähnlich. Vielleicht habt ihr ebenfalls vergleichbare Situationen erlebt und könnt darüber schmunzeln.

Man sieht sich immer zwei Mal im Leben
Ich möchte euch eine kleine Geschichte erzählen. Vor einigen Jahren war ich (wie so oft) in Berlin unterwegs. Ich saß in der S-Bahn und sie war natürlich voll. Vor mir saß eine ältere Dame, neben mir ein Herr in meinem Alter (also Anfang 20). Mit einem Mal wurde es unruhig in der Bahn und alle fingen an in ihren Taschen zu kramen. Das konnte zwei Gründe haben: entweder wurden mit einem Mal alle miteinander sozial und spendenbereit oder sie sahen eine Person die Tickets kontrolliert.
Ich sah sie noch nicht, suchte aber auch schon einmal meinen Schwerbehindertenausweis inklusive Wertmarke heraus. Der Mann neben mir wurde immer nervöser, doch da stand die Kontrolleurin schon neben unseren Sitzen. Er stotterte, dass er nun hier raus müsste, aber sie erwiderte nur, dass sie dann mitkommen würde. So einfach käme er ihr nicht davon.
Sie wirkte wirklich unfreundlich und so dachte ich mir, dass ich ihm nun den Tag retten möchte. Ich stupste ihm so leicht in die Seite und sagte: „Hey, du brauchst doch kein Ticket, wenn du mit mir unterwegs bist. Begleitpersonen fahren doch durch das B in meinem Ausweis gratis mit.“ Er war verwirrt und konnte nichts sagen. Die Bahn-Dame war sauer. Das war mir aber relativ egal. Ich lächelte sie an und hielt ihr die Wertmarke entgegen. Nach ein paar motzigen Worten ging sie weiter.

Die Dame gegenüber von mir senkte lächelnd ihren Kopf. Der Herr neben mir war hingegen immer noch perplex. Er bedankte sich zögerlich und stieg zwei Stationen später wirklich aus. Vorher drehte er sich aber noch einmal um, bedankte sich noch einmal und wünschte mir einen schönen Tag. Ich grinste und gab dies zurück, mit dem Nachtrag: „Man sieht sich ja wahrscheinlich immer zwei Mal im Leben“. Er stieg mit einem Lächeln aus und ich dachte mir, dass er heute vielleicht auch etwas Nettes zurückgibt. Vielleicht hält er einer anderen Person die Tür auf oder schenkt sein Lächeln jemand anderem. Vielleicht habe ich diesen Tag durch eine kleine Geste etwas schöner gemacht und das konnte ich durch den Ausweis, also auch durch meine Behinderung.

Die Behinderung als Türöffner
Wenn ich angesprochen werde, dann oft mit den Worten „Sind sie wirklich blind?“ oder „Kann ich ihnen helfen?“ Ich gebe zu, davor hatte ich damals am meisten Angst. Ich wollte nicht, dass die Leute lediglich meine Behinderung sehen. Es hat eine kleine Ewigkeit gedauert bis ich begriffen habe, dass mein Stock oder andere Hilfsmittel oft nur der Einstieg in tolle Unterhaltungen sind.
Ich kann nicht aufzählen wie viele lustige Gespräche ich beispielsweise in der Bahn schon geführt habe. Zum Schluss geht es fast nie um meine Behinderung.

Ich saß eines Tages in der Bahn und ein älterer Mann setzte sich gegenüber von mir hin. Wir waren in Wolfsburg und hatten, wie bei der Deutschen Bahn nicht unüblich, eine Menge Verspätung. Ich war schon lang unterwegs und hatte noch ein ganzes Stück vor mir. So bat ich den Mann auf meine Tasche aufzupassen und ging mit meinem Stock in Richtung WC. Als ich wiederkam war er fasziniert, da er mir meine Blindheit erst nicht ansah. Wir unterhielten uns lang und irgendwann, nach über einer Stunde, erzählte er, dass er in Wolfsburg durch kluge Investitionen viel Geld gemacht habe. Der Mann war mehrfacher Millionär und dankte mir gegen Ende des Gespräches. Er sagte, es wäre schön gewesen mal nicht aufgrund seines doch sehr teuren Äußeren bzw. seines Bekanntheitsgrades angesprochen worden zu sein. Er hätte sich lang nicht mehr so locker unterhalten. Zum Dank gab er mir seine Karte und sagte, er würde mir für mein soziales Engagement sowie mein Studium gern etwas Geld geben. Als er ging lächelte er und ich war mir sehr unschlüssig, was ich nun denken und tun sollte.
Nach etwas Bedenkzeit verbuchte ich es als interessante Erfahrung. Mir wurde klar, dass meine fehlende visuelle Beurteilung, Vorteile hatte. Vielleicht wäre ich durch die Wahrnehmung seines teuren Outfits gehemmt gewesen, mich als kleine Studentin auf einer Ebene mit ihm zu unterhalten. So konnte ich mich vorurteilsfrei unterhalten. Den Anstoß gab mein Stock.

Das habe ich vorher nie gesehen
Es gibt noch viele weitere Geschichten, die ich unter dem Punkt „Das ist Positiv an meiner Behinderung“ zusammenfassen könnte. Ich möchte euch aber etwas über meine Oma erzählen.

Wir wohnen in einem Mehrgenerationenhaushalt. So haben wir die Möglichkeit uns gegenseitig umeinander zu kümmern. Ich passe schon seit Jahren auf meine Schwester auf, wenn meine Mutter arbeitet. Wenn ich auch nicht da bin, passen sie und meine Großmutter auf die Tiere auf. Der eine macht halt dies, dafür die andere jenes. Das funktioniert auch wunderbar.

Es ist nun schon einige Zeit her, aber als ich in der Pubertät war, war mein Verhältnis zur Familie etwas angespannter. Ich suchte meine Freiheit und wollte auch möglichst oft nicht zuhause sein. Obwohl meine Großmutter die war, die mich hinter meinem Rücken immer vor allen verteidigt hat, habe ich nicht immer gern mit ihr Zeit verbracht. Sie wollte, dass ich immer nach der Schule zumindest einmal Hallo und Bescheid sage, dass ich zuhause bin. Da fragte sie natürlich auch, wie mein Tag war. Wenn ich nur sehr kurz antwortete war sie traurig. Das verstand ich nicht. Ich war in der Schule, was sollte da schon passiert sein.
Wenn wir dann zusammensaßen, erzählte sie nur von den Tieren, den Bäumen, dem Müll oder dem Wetter. Häufig wiederholte sie sich auch. Das langweilte mich und man sah es meinem sowieso immer müde aussehendem Teenie-Gesicht sicher auch an. Oft war sie dann traurig oder auch sauer. In meinem Kopf war aber immer nur: „Sie sollte lieber glücklich sein, schließlich darf sie den ganzen Tag daheimbleiben.“ Dieser Gedanke stellte sich als falsch heraus.

Ich erblindete. In der Zeit zwischen der 10. und 11. Klasse schien etwas mit meinen Augen passiert zu sein. Ich konnte meine Bücher, nicht einmal mehr mit einer Lupe, lesen. An der Tafel erkannte ich auch aus der ersten Reihe nichts mehr. Das Schlimmste waren aber die Schulflure. Mein Sichtfeld hatte sich so verengt, dass ich nicht mehr allein durch die Menschenmassen fand. Es war eine schwere Zeit.
Mit viel Tränen brachte ich mein Abitur hinter mich und blieb im Anschluss ein Jahr daheim. Wortwörtlich! Ich traute mich nicht unser Grundstück zu verlassen, da ich panische Angst davor hatte, jemanden zu übersehen und zu verletzen. Ich hatte keinen Stock, noch kein Mobilitätstraining, und war so völlig auf fremde Hilfe angewiesen.
Mit einem Mal sprach ich nur noch von den Tieren, den Erlebnissen meiner Liebsten, dem Wetter und dass der Müll heute wirklich spät abgeholt wurde. Ich wiederholte spannende Geschichten immer und immer wieder und sah die Reaktion meiner Außenwelt mit einem Mal selbst. Sie hörten mir nicht mehr zu, waren genervt, anderweitig beschäftigt. Dadurch bekam ich wirklich schlechte Laune. Ich war traurig, wütend, ungerecht. Sie sagten mir: „Sei doch froh, dass du nicht früh aufstehen musst.“ Ich wäre es so gern, denn dann hätte mein Tag eine Struktur gehabt und vielleicht einen Sinn.

Als ich meinen Mobilitätskurs hinter mir hatte und wieder im Leben stand, begriff ich dies mit einem Mal. Ich begriff wie wichtig es ist, Menschen das Gefühl zu geben, dass sie wichtig sind.
Ich habe meiner Großmutter damals viel aus der Hand genommen mit den Worten „Gib her! Ich mache das schnell. Ich bin doch schneller als du.“ Wie sehr ich es heute hasse, wenn mir Leute Dinge aus der Hand nehmen, weil sie denken, ich kann es nicht. Das war von mir und ist von anderen sicher nett gemeint, gibt den Leuten aber ein schlechtes Gefühl. Das Stichwort ist hier: Hilfe zur Selbsthilfe.

Heutzutage sitze ich gern mit meiner Oma draußen und trinke Kaffee. Oft setzt sie sich dann schon mit den Worten: „Hast du das schon gehört?“ Wir reden viel über Politik, Möglichkeiten, wie man auch Dinge in unserer Gemeinde verbessern könnte. Hier hat sie einen Sinn gefunden, denn sie hört regelmäßig Nachrichten um sich dann mit mir darüber auszutauschen.
Bei handwerklichen oder hauswirtschaftlichen Fragen ist sie auch meine Nummer 1. Das lasse ich sie auch regelmäßig wissen, wenn ich ihr kaputte Dinge zeige mit der Frage, ob sie eine Idee hätte, wie man es heil kriegen könnte.

Wir verstehen uns mittlerweile besser denn je und ich weiß nicht, ob ich diese Erkenntnis anders gewonnen hätte. Meine Mutter und mein Partner schweigen oft, wenn wir zum dritten Mal über etwas diskutieren. Sie driften ab, wenn wir über den Müll sprechen, aber ich weiß wie wichtig es einem sein kann. Und so sorge ich dafür, dass sie immer etwas zum Nachdenken und erzählen hat, auch wenn sie mit anderen telefoniert. Das hält sie fit und zufrieden. Das ist doch auch das Wichtigste, oder?

(Artikel von Sophie Heinicke aus der August-Brücke 2024)

Re: Was ist positiv an meiner Behinderung?

Beitrag von Robbie Sandberg Site Admin » 05.08.2024, 15:04

Hay Sophie!
Ein schöner Artikel. Mir geht es auch so, dass ich meiner Blindheit positives abgewinnen kann.
Ich besuche gelegentlich Schulen, als Blinder zum Anfassen, wie ich immer sage. Der eine oder die andere Schüler*in fragt dann schon mal, ob die Blindheit auch etwas Gutes hätte.
Oberflächlich gesehen klingt das erstmal blödsinnig. Was soll an einer Behinderung gut sein.
Weil die Frage öfter kam, bin ich dann in mich gegangen und habe überlegt.

Ich bin ebenfalls zu dem Schluss gekommen, dass ich durch die Blindheit weniger von Vorurteilen über das Äußere von Menschen gesteuert bin.
Mir fällt das manchmal krass auf, wie wertend sehende Leute, mit denen ich unterwegs bin, über Mitmenschen sprechen. „Die sieht aus wie eine Lesbe. Der wäscht sich bestimmt nicht. Die sieht aus, wie eine Wurst in der Pelle.“
So jemand hat also im eigenen Kopf schon entschieden, dass das Gegenüber lesbisch ist, bevor sie überhaupt ein Wort gewechselt haben, und was noch dazu völlig unwichtig für die Begegnung ist.
Da bin ich echt froh, dass mir diese Falle erspart bleibt. Ich will gar nicht sagen, dass ich drüberstehe, aber dass die Blindheit mich dafür nicht anfällig macht.

Was glaube ich auch durch die Blindheit begünstigt wird, ist dass ich ein gutes Gespür für die Stimmung von Menschen habe. Das ist nichts Mystisches. Ich höre einfach Nuancen in der Stimme, die Leuten mit weniger trainiertem Gehör vielleicht entgehen.

Und wo wir beim Gehör sind, durch die Blindheit habe ich ein sehr analytisches Gehör für akustische Information im Allgemeinen und Musik und Hörspiele im Besonderen entwickelt.
Natürlich gibt es auch Sehende, die das können, aber vielleicht nicht so viele, wie man denkt. Viele Tonmenschen schneiden auf Sicht oder Mastern ganze Alben zu Dreck.
Ich bin sicher, dass meine Blindheit mich hier gewissermaßen hat aufhorchen lassen.

Vergessen wir auch nicht die kleinen Annehmlichkeiten des alltäglichen Lebens. Freie Fahrt im ÖPNV, vergünstigte Konzerte und Kinobesuche, Begleitung auf Flughäfen.
Viele sehende Passagiere hätten liebend gerne eine Person, die sich auf dem Flughafen auskennt und sie zum Gate führt. Stattdessen irren die durch schlecht ausgeschilderte Gänge.
Manche Menschen müssen sich überlegen, zu welcher Tageszeit sie mit der U-Bahn fahren, damit sie sich das Ticket leisten können. Da sind wir weit besser dran.

Das sind natürlich keine Gründe, für die man das Sehvermögen eintauschen würde, aber wenn man schon mal blind ist, kann man sich doch daran freuen.
Ich bin mir der Barrieren und gelegentlich Mitmenschen, die uns den Alltag erschweren sehr bewusst. Aber ebenso bin ich mir der Privilegien bewusst, die ich aufgrund meiner Blindheit habe und weiß sie zu schätzen

Insofern haben mir die oben erwähnten Schüler*innen keine blödsinnige Frage gestellt, sondern gezeigt, dass sie mehr für möglich halten, als was die Oberfläche hergibt.

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