Technik und Techniken des Navigierens

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Technik und Techniken des Navigierens

Beitrag von Robbie Sandberg Site Admin » 20.06.2023, 12:58

Was die Technik leisten kann
Um es gleich vor weg zu sagen, eine Navigations-App nimmt dich nicht an die Hand. Ich erlebe immer wieder, wie enttäuscht Menschen sind, wenn sie herausfinden, dass beim Gebrauch von Navi-Apps auch die eigene Wahrnehmung gefragt ist.
Gerade Menschen, die als Erwachsene erblinden, fühlen sich auf der Straße oft unsicher, weil sie die Orientierung nach dem Gehör, das Auswerten zahlloser Geräusche und Gerüche, das Spüren von Untergründen noch nicht verinnerlicht haben.
Sie sind daher von sehenden Mitmenschen abhängig, die sie begleiten. Abhängigkeit macht unzufrieden, zumal man das Gefühl hat, für die Mitmenschen eine Last zu sein.
Deshalb erhoffen sich betroffene Menschen von Navigations-Apps oft eine Art Ersatz für menschliche Begleitpersonen. So einfach ist es aber leider nicht.
Die App bestimmt die aktuelle Position und gibt an Hand eines virtuellen Straßennetzes Anweisungen. Straßen sind für die App reine Linien, die ein Netz ergeben. Ob eine Straße breit oder schmal ist, ob der Gehweg uneben ist, ob es ein Bodenleitsystem gibt oder wo der Ampelmast steht, weiß sie nicht. Die App hat keine Augen, die die Umgebung erfassen können. Bei der Anweisung "Jetzt abbiegen" muss man selbst herausfinden, ob man sich tatsächlich an einer Straßenecke befindet oder ob man gerade die Zufahrt eines Grundstücks betritt.
Man ist daher nach wie vor auf die eigenen Bordmittel angewiesen, um die nähere Umgebung zu erkunden und die Routenanweisungen sinnvoll umzusetzen. Das gilt auch für Sehende. Man denke nur an den LKW-Fahrer, der in den Rhein fuhr und starb, weil die Navi-App eine Fährverbindung für eine Straße hielt und ihn dort hinlenkte.
Also, die App nimmt dir nicht ab, dir durch Mobilitätstraining und Praxis die Sinne zu schärfen. Die gute Nachricht ist aber, wenn man diesen Schritt geht, können Navi-Apps die Welt eröffnen.

Unterwegs mit allen Sinnen
Ich gehe auf einer belebten Straße in San Francisco. Über meinen Knochenleit-Kopfhörer teilt mir die App BlindSquare mit, an welchen Geschäften, Restaurants und Cafés ich vorbeikomme.
Dank BlindSquare erlebe ich die Stadt wie ein sehender Tourist, der die Schilder der Geschäfte liest, an denen er vorbeikommt.
"Café Martha & Brothers, 20 Meter, 11:00 Uhr."
Hier möchte ich mal verschnaufen. Ein Wenig nach links drehen, auf 11:00 Uhr, dann bis zur Häuserwand und daran entlang. Vielleicht kann ich den Eingang hören oder riechen. Kaffeezubereitung erzeugt ja sehr typische Geräusche und Düfte.
Falls die Tür geschlossen ist, habe ich den Langstock und meine Hände, um sie zu finden.
So ein Knochenleit-Kopfhörer ist gut zum Navigieren geeignet. Er ist unscheinbar und lässt die Ohren frei, so dass ich mich weiterhin nach Gehör orientieren kann. Die Anweisungen der App höre ich trotz Straßenlärms.
Während ich bei Martha & Brothers einen Kaffee trinke, suche ich mit BlindSquare nach dem Haight-Ashbury Music Center, einem Geschäft für Instrumente und Zubehör. Da BlindSquare selbst keine Routen berechnen kann, übergibt die App die Zielkoordinaten an Google Maps, die sich sogleich öffnet. Hier wische ich durch die Liste der Routenanweisungen, um mir einen Eindruck von der Route zu verschaffen. Auch erfahre ich so die Namen der Straßen entlang der Route. Straßennamen zu wissen kann nützlich sein. Falls ich mich verirre, möchte ich nach bestimmten Straßen fragen können.
Der Weg scheint einfach zu sein, aber natürlich informiert die App nicht über Straßen, die ich überqueren muss. Sie meldet sich nur bei Richtungsänderungen. Es könnte also sein, dass ich schwierige Kreuzungen überwinden muss.
Wie sich herausstellt, muss ich zwar einige Straßen überqueren, habe es aber nicht mit komplizierten Kreuzungen zu tun.
Google Maps veranschlagt 11 Minuten Gehzeit. Ich gehe mal von 15 aus, weil man als blinder Fußgänger ja doch manchmal suchen muss.
Da Google Maps bei der Navigation keine Querstraßen ansagt, lasse ich BlindSquare im Hintergrund mitlaufen. Die App meldet Kreuzungen, indem sie zuerst die Straße nennt, in der man sich befindet und dann die vorausliegende Querstraße. Stimmen die Ersteren mit den von Google Maps genannten Straßen überein, bin ich richtig.
Sollten Google Maps und BlindSquare einmal gleichzeitig sprechen, also Kreuzung und Routenanweisung unverständlich sein, fokussiere ich das Feld oben links auf dem Touchscreen. Hier wird die aktuelle Anweisung angezeigt. Die Sprachausgabe des Smartphones liest sie vor.

Abends möchte ich nach einer Kneipentour mit dem Bus zu meiner Unterkunft fahren. Ich stelle BlindSquare auf die Kategorie "Reise und Verkehr" ein und gehe die Straße entlang, um bei der ersten Haltestelle, die gemeldet wird, auf den Bus zu warten.
Der ersten Haltestelle komme ich nicht näher als 12 Meter, dann vergrößert sich wieder die Entfernung. Die Richtungsangabe weist auf die andere Straßenseite.
Ich steuere eine zweite Haltestelle an. Wieder heißt es "12 Meter, 09:00 Uhr". Mir wird bewusst, dass für diesen Abschnitt nur Haltestellen auf der anderen Straßenseite erfasst sind. Die Haltestellen für die entgegengesetzte Busrichtung fehlen gänzlich.
Ich bin aufgeschmissen, denn jetzt habe ich keine Anhaltspunkte mehr. In Deutschland würde ich die Straße nach einem Bushäuschen absuchen, aber in San Francisco gibt es die nicht an jeder Haltestelle. Oft ist nur ein Pfahl oder eine Wand mit einer Buslinie bemalt.
Eine Option bleibt mir aber - und die gehört zum Navigieren wie meine Apps. Ich frage Passantinnen.
Als Reisender, auch als Sehender, ist man gelegentlich auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen. Meine Devise ist, sie nicht einzuplanen, aber damit zu rechnen, dass ich sie dann und wann brauchen werde.

Nach einem aufregenden Krimiwochenende im Aura-Hotel ist mir nach einem Strandspaziergang ganz allein.
Schon vor Jahren habe ich den Eingang zum Hotelgelände als Punkt bei BlindSquare eingetragen. So kann ich ihn ansteuern, sollte ich mich im Wegenetz entlang der Strandpromenade mal verlaufen. Ich überquere die Straße an der Akustikampel und gehe weiter Richtung Strand. BlindSquare meldet "Strandzugang am Holzschuppen, 40 Meter, 12:00 Uhr". Ein weiterer Punkt, den ich eingetragen habe. Jetzt brauche ich ihn noch nicht, weil man nur geradeaus gehen muss, bis man Sand unter den Füßen spürt, aber auf dem Rückweg wird er mir helfen, den Strand wieder zu verlassen.
Ich gehe bis zum Wasser und drehe mich nach links. Ausgelassen stratze ich durch den Sand. Meine Richtung passe ich dem Wasser an, das ich rechts von mir branden höre.
Nach ca. 500 Metern meldet BlindSquare "Seeschlößchenbrücke, 50 Meter, 12:00 Uhr". Auch diesen Punkt habe ich eingetragen, nachdem ich mir beim allerersten Strandspaziergang den Kopf an der Brücke gestoßen habe. Auf diese Weise bin ich gewarnt.
Ich verlangsame meine Schritte und beginne zu schnalzen, um die Brücke zu orten. Als ich sie direkt vor mir höre, strecke ich die Hand aus und taste nach dem unteren Rand, um drunter durchzuschlüpfen.
Auf dem Rückweg wandere ich wieder am Wasser entlang und schüttle das iPhone gelegentlich, um die Distanz zum Strandzugang abzufragen.
Als BlindSquare meldet, " Strandzugang am Holzschuppen, 50 Meter, 02:00 Uhr", mache ich eine kleine Rechtsdrehung und entferne mich vom Wasser. BlindSquare meldet jetzt in kürzeren Abständen Richtung und Entfernung, so das ich meine Gehrichtung anpassen kann. Ich stoße auf die Grasbewachsene Böschung und gehe ein kurzes Stück daran entlang, bis ich mit dem Langstock den Durchgang finde.

Timmendorf hat aber nicht nur Strand-Feeling zu bieten. Nun möchte ich mal den Wald im Binnenland erkunden. Mit der Wander-App Komoot suche ich nach Ausflugszielen in der Natur.
Komoot berechnet nicht die kürzeste oder günstigste Route wie Google Maps, sondern bevorzugt Wald- und Wanderwege. Mit der App plane ich eine Rundtour vom Aura-Hotel über den Vogelpark Niendorf und den Hermann-Löns-Aussichtsturm zurück zum Hotel. Wie sich zeigt, sind die Wege alle befestigt und gut zu finden. Die Routenanweisungen von Komoot sind recht ausführlich und lassen mich die 5 KM ohne große Schwierigkeit bewältigen.
Ich genieße es, frei und unabhängig durch den Wald zu streifen.
Aus eigener Kraft klarzukommen stärkt mein Selbstbewusstsein.

Über die Apps
Ich werde oft gefragt, welche App zum Navigieren ich empfehle. Wie hier vielleicht klar geworden ist, gibt es nicht die eine, ideale App. Verschiedene Zwecke erfordern den Einsatz verschiedener Apps.
Zum Navigieren auf der Straße nutze ich Google Maps. Das ist aber Geschmackssache. Man kann statt dessen auch die Apple Karten-App nutzen, die für mein Empfinden aber umständlicher zu bedienen ist. Dafür hat Apple Karten einen Modus zum Vermeiden verkehrsreicher Straßen, was für den Einen oder die Andere interessant sein könnte.
Bei Google Maps ist zu berücksichtigen, dass die Routenanweisungen im Fußgängermodus die selben sind, wie die für Autos. Daher erfolgen sie oft bevor man den betreffenden Punkt erreicht.
Zum Wandern oder Spazierengehen eignet sich Komoot. Allerdings muss man in Kauf nehmen, dass die App nicht ganz barrierefrei ist.
BlindSquare ist für mich eine unerlässliche Begleiterin, um über meine jeweilige Umgebung informiert zu sein und nach Orten zu suchen. Sie ist allerdings kostenpflichtig.
Um die richtige App für sich zu finden, sollte man Verschiedene ausprobieren und sich mit anderen Nutzenden über ihre Erfahrungen austauschen.
Klar ist, will man den Segen der Technik für sich nutzen, muss man sich mit ihr auseinandersetzen.

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