VoiceVista - Der neue Navigationsstandard oder Technikspielerei

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VoiceVista - Der neue Navigationsstandard oder Technikspielerei

Beitrag von Robbie Sandberg Site Admin » 04.08.2023, 11:00

VoiceVista ist eine relativ neue Navigations-App, die aus dem Microsoft Soundscape Projekt hervorgegangen ist.
Ich habe schon mehrfach positive Kommentare gelesen, in denen die technische Innovation der App gepriesen wird. Das wundert mich, weil sie zwar im ersten Moment beeindruckt, aber bei der Nutzung doch schnell klar wird, wo der Haken ist.
Was die App schon mal nicht kann, ist eine Route berechnen. Man kann Routen anlegen, in dem man Punkte auswählt, die man vorher in der POI-Liste markiert oder selbst eingetragen hat. Vergleichbar ist das Prinzip mit MyWay Pro.
Die App greift zwar auf externe Karten-Apps wie Apple Karten oder Google Maps zu, um POI und Kreuzungen melden zu können, kann aber keine Route zu einer Adresse berechnen. Das ist ja etwas, das vielen an einer Navigations-App wichtig ist.

Das herausragende Merkmal von VoiceVista ist die Navigation nach Richtungsgehör. Wenn man einen Punkt ansteuert, hört man fortlaufend einen Signalton aus der Richtung, in der der Punkt liegt. Kommt das Signal z.B. von 9 Uhr, muss ich mich 90° links drehen, damit der Punkt vor mir liegt. Das Signal wandert dann auf 12 Uhr.
Das heißt, dass man unbedingt Ohr- oder Kopfhörer braucht, weil man sonst das Stereofeld nicht hören kann. Am besten Knochenleitkopfhörer, weil man sich mit Airpods oder Sonstigen ja die Ohren verstopft.
Natürlich funktioniert das nur, wenn man ein intaktes Gehör hat, um das Stereofeld wahrzunehmen.
Man kann das Signal abstellen, bekommt dann aber keine Richtungsinformation. Man kann lediglich mit einer Schaltfläche die Entfernung abfragen.
Weiterhin muss man das iPhone flach vor sich halten, um das Signal aus der richtigen Richtung zu hören. Wer möchte so durch die Stadt laufen und der Allgemeinheit das iPhone zum Klauen anbieten. Für eine kurze Strecke, sagen wir über einen Campus, mag das gehen, aber wohl kaum für längere Routen durch die Stadt. Beim Wandern im Wald möchte ich auch nicht ständig einen Signalton im Ohr haben.
Und dann soll man bei allen anderen akustischen Reizen, auf die man als blinde Person achten muss, auch noch das Signal verfolgen. Ob man die Richtung bei Verkehrslärm dann noch einschätzen kann, habe ich nicht getestet. Der Vollständigkeit halber muss aber gesagt werden, dass man außer nervigen Ping-Tönen mit den Optionen "Original" und "Taktil" sich auch knackige Techno-Beats auf die Birne schalten kann. Das kommt eventuell gegen Verkehrslärm an. Aber ob man dann noch den Ortungston der Ampel unterscheiden kann?

OK, der Vorteil, den die ursprünglichen Entwickler*innen von Microsoft wohl im Sinn hatten, ist dass man weniger Sprachansagen bekommt, weil die Richtungsansage entfällt. Man muss auch nicht überlegen wie weit man sich drehen muss, um richtung 10 oder 2 Uhr zu gucken, weil man sich einfach darauf konzentriert, den Ton Vorne zu haben. So weit leuchtet mir das Konzept ein. Es hat ja auch was. Man sollte nur nicht denken, dass VoiceVista der neue Navigations-Allrounder ist. Sie eignet sich eher für ganz bestimmte Situationen und dann auch nur für bestimmte Menschen, die z.B. einen Knochenleitkopfhörer besitzen oder tragen mögen, die gut hören können und die in der Lage sind, multiple akustische Eindrücke zu verarbeiten. Keine App, die man späterblindeten Senior*innen als Must-Have empfehlen würde.

Der räumliche Eindruck, den man bei den Optionen "Was ist in der Nähe" und "Was liegt vor mir" bekommt, ist schon reizvoll. Es ist ein Bisschen wie BlindSquare, nur dass keine Richtung angesagt wird, sondern die Ansage aus der betreffenden Richtung kommt. Man bekommt so einen Eindruck von der eigenen Position relativ zu umliegenden Orten.
entscheidend ist hier aber auch, dass die Entfernung angesagt wird. Wenn ein POI z.B. auf 4 Uhr ist und nur 10 Meter entfernt, komme ich mit großer Wahrscheinlichkeit dort hin, wenn ich mich in die gehörte Richtung drehe und losgehe. Ist der POI 150 Meter entfernt, weiß ich, dass ich kaum in gerader Linie dort hinkommen werde.

Dass man beim Navigieren die Ansage umliegender POI aus der Richtung hört, in der sie liegen, ist zunächst ganz witzig. Das hilft aber nicht wirklich bei der Navigation, weil hier im Gegensatz zur oben beschriebenen Option keine Entfernungsansagen erfolgen. VoiceVista meldet mir z.B. eine Treppe, die der Richtung der Ansage nach vor mir liegt. Das stimmt auch, aber zur Treppe muss man über die Straße und dann noch durch eine Häuserzeile, sie ist ca. 60 Meter entfernt und kann gar nicht in gerader Linie erreicht werden. Da die Ansage ohne Entfernungsangabe erfolgt, ist die Information für mich nutzlos bis verunsichernd. Würde ich mich nicht auskennen, würde ich die Treppe in wenigen Metern erwarten.

Drei Dinge könnten die App für mich aufwerten.
1. Man müsste eine Entfernungsansage für umliegende POI optional zuschalten oder abrufen können.
2. Man müsste den Radius der während der Navigation angesagten POI einstellen können.
3. Man müsste die Kategorien der angesagten POI filtern können.
Das sind ja nun Komfortstandards, die andere Apps längst erfüllen. Ohne die ist VoiceVista für mich ein netter aber unfertiger Versuch.

Fazit: Wer eigene Routen anlegen und navigieren möchte, beim Navigieren nicht das iPhone vor sich halten möchte und lieber aussagekräftige Ansagen hören statt einen Wanderton orten möchte, ist mit MyWay Pro oder Seeing Assistant Move besser beraten. Allerdings stören sich auch einige an den vielen Sprachansagen dieser Apps. VoiceVista könnte hier einen Versuch Wert sein, wenn man die o.g. Abstriche in Kauf nimmt.
Wer POI in der Umgebung mit Richtung und Entfernung angesagt haben möchte, hat mit BlindSquare eine unübertroffene Lösung. Wer Routen nach Kartendaten navigieren möchte, ist hier ganz falsch.

Ich weiß, dass es andere Meinungen gibt, da z.B. auf AppleVIS die App als essenziell für blinde Menschen bezeichnet wurde. Daher bin ich gespannt auf eure Kommentare. Besonders würden mich Erfahrungsberichte vom Navigieren interessieren.

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